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Titel
Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Erinnerungspolitik und historische Kontroversen in der Bundesrepublik 1945–1980. Übersetzt von Charlotte P. Kieslich


Autor(en)
Ruff, Mark Edward
Erschienen
Paderborn 2022: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Unger-Alvi, Deutsches Historisches Institut in Rom

Mark Edward Ruffs Buch „The Battle for the Catholic Past“, welches 2017 bei Cambridge University Press erschien, hat sich rasch als Standardwerk zur Geschichte der katholischen Erinnerungspolitik nach 1945 etabliert. Seit diesem Jahr liegt nun eine sorgfältige deutsche Übersetzung dieses Werks vor, verbunden mit kleinen Aktualisierungen und Anpassungen im Hinblick auf das deutschsprachige Publikum.

Ruff widmet sich den großen Fragen nach dem katholischen Verständnis der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegszeit und führt seine Leserinnen und Leser durch die politischen Kontroversen der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre. Dabei entwirft der Autor ein durchaus neues Bild vor allem der Adenauer-Ära. Aufgrund der Teilung Deutschlands war der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung der Bundesrepublik erheblich größer als im Deutschen Reich vor 1945, weshalb Historiker die politische Bedeutung des Katholizismus in Westdeutschland und besonders in der CDU immer wieder herausgestellt haben. Dabei zeigt Ruff jedoch, dass Adenauers Kanzlerschaft weniger durch einen stillen politischen und ökumenischen Konsens geprägt war, sondern vielmehr auch eine Zeit des Protests und der ideologischen Gefechte war. Parteipolitische Konflikte kristallisierten sich immer wieder rund um die Frage nach der Rolle der katholischen Kirche in Deutschland. Ruff argumentiert, „dass es mit Blick auf die Vergangenheit der Kirche in den 1950ern keine Ära des Schweigens gab“, schon wegen der „medienwirksame[n] Kontroverse über die Fortgeltung des Reichskonkordats“ (S. 8). Vielmehr waren die Debatten zum Handeln oder Nicht-Handeln des Katholizismus im „Dritten Reich“ ein Kulminationspunkt politischer Spannungen in der westdeutschen Öffentlichkeit.

In sieben breit angelegten Hauptkapiteln verfolgt Ruff verschiedene Fallstudien von den ersten Debatten der Nachkriegszeit bis zur Repgen-Scholder-Kontroverse der 1970er-Jahre. Dadurch bietet das Buch einerseits ein Panorama der katholischen Vergangenheits- und Erinnerungspolitik, nimmt andererseits aber auch einzelne Autoren, Werke und Ereignisse detailliert in den Blick. Zu Beginn beschäftigt sich Ruff etwa sehr intensiv mit Johannes Neuhäuslers Buch „Kreuz und Hakenkreuz“, das bereits 1946 erschien. Der ehemalige Widerstandskämpfer und KZ-Häftling Neuhäusler entwarf darin ein Bild des Katholizismus, das vor allem die Gegnerschaft zum NS-Regime betonte.

In den 1950er-Jahren begannen jedoch bewegte Debatten über die Demokratietauglichkeit der katholischen Kirche aufgrund ihrer historischen Feindseligkeit gegenüber Liberalismus und Sozialismus sowie aufgrund ihres Festhaltens an naturrechtlichen Lehren, die viele Kritiker als inkompatibel mit dem Grundgesetz sahen. Ruff zeigt, dass sich diese Kritik vor allem am Reichskonkordat entzündete, dessen fortdauernde Gültigkeit vonseiten der SPD und FDP infrage gestellt wurde. Während sich Adenauer und Pius XII. auf den Standpunkt stellten, das Konkordat habe „weitaus Schlimmeres verhindern können“, bedienten sich Kritiker einer polemischen Rhetorik. Politiker wie Georg August Zinn (SPD) oder Thomas Dehler (FDP) sprachen nur vom „Hitler-Konkordat“ (S. 108) oder sogar von einem „kleriko-faschistischen Staat“ (S. 119). „Das Reichskonkordat“, schreibt Ruff, „entwickelte sich in der Tat zum Präzedenzfall für den Verlauf der Grenzen zwischen Kirche und Staat.“ (S. 118)

Im Kampf um das Reichskonkordat kündigten sich bereits viele der Kontroversen um die Person Pius' XII. an, die weltweit erst nach der Aufführung und Textpublikation von Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel“ (1963) aufflammten. „Für das politische Establishment Deutschlands war Pius XII. weithin eine unantastbare Ikone wegen seines Einsatzes für die besiegten Deutschen in den späten 1940er Jahren.“ (S. 119f.) Im Gegensatz dazu stand jedoch die Veröffentlichung eines bis dahin geheimen Anhangs zum Reichskonkordat, welches die Kirche und das NS-Regime schon 1933 für den Fall eines Krieges bzw. den Fall eines Endes der Versailler Konventionen geschlossen hatten. Hierin war etwa die Stellung von Klerikern im Fall der Mobilisierung und des Wehrdiensts geregelt worden, was Kritiker wie Zinn zu der Annahme führte, dass das Reichskonkordat von einem demokratischen Staat und ohne Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ niemals hätte abgeschlossen werden können. „[…] der Weimarer Parlamentarismus hätte kurzerhand zur Ablehnung seiner Bestimmungen geführt.“ (S. 112)

Nachdem das Bundesland Niedersachsen die Umsetzung des Reichskonkordats verweigerte, musste der Streit um die Fortgeltung des Abkommens 1956 durch das Bundesverfassungsgericht beigelegt werden. In seiner Beschreibung dieses aufsehenerregenden Prozesses, der von zahlreichen Journalisten und historischen Gutachten begleitet wurde, zeigt Ruff, dass die Streitfragen zur Rolle der Kirche im Nationalsozialismus schon während der 1950er-Jahre in breiter Öffentlichkeit diskutiert wurden. Der Kompromiss, den das Verfassungsgericht schließlich fand, blieb für alle Beteiligten unbefriedigend: Während die völkerrechtliche Gültigkeit des Konkordats bestätigt wurde, gestand das Gericht den deutschen Ländern eine Unabhängigkeit bei seiner Umsetzung zu, weshalb daraufhin neue Abkommen mit einzelnen Ländern ausgehandelt werden mussten. Was die Kirche hier als juristischen Sieg für sich verbuchte, führte gleichzeitig auch zu einer tieferen gesellschaftlichen Hinterfragung ihres politischen Wirkens.

Dies zeigte sich in zahlreichen Publikationen der folgenden Jahre. Große Aufmerksamkeit schenkt Ruff dabei Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtem Aufsatz in der katholischen Zeitschrift „Hochland“ über den deutschen Katholizismus im Jahr 1933. 1961 beschäftigte sich Böckenförde hier mit zahlreichen Zitaten von Klerikern und Zentrums-Politikern, die sich dem Nationalsozialismus keineswegs entgegengestellt hatten. Erstmals wurde so auch in einem katholisch-konservativen Journal die eigene Vergangenheit infrage gestellt. Vor allem aber übte Böckenförde Kritik am Verständnis der katholischen Naturrechtslehre, die für ihn dazu geführt hatte, dass Katholiken keinen Widerstand leisten wollten, sondern sich vielmehr der „weltlichen Ordnung“ ergaben.

Den Höhepunkt des politischen Streits um die Haltung der Kirche bildete sicher die schon erwähnte Veröffentlichung von Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ im Jahr 1963, das in 20 Ländern auf über 60 Bühnen aufgeführt wurde (1966 schließlich auch in Ost-Berlin). Gerade aufgrund des polemischen Charakters des Stücks spitzte sich der ideologische Konflikt weiter zu. Weltweit kam es zu heftigen Reaktionen, etwa Demonstrationen von Katholiken in New York und 1965 sogar Bombenanschlägen in Rom.

Dies alles bildete den Hintergrund der akademischen Debatten der nächsten Jahrzehnte, welche teilweise bis heute noch fortdauern. In seinen letzten Kapiteln analysiert Ruff daher auch wissenschaftliche Veröffentlichungen, wie Guenter Lewys Buch „Die katholische Kirche und das Dritte Reich“ aus dem Jahr 1964 (zunächst auf Englisch erschienen, 1965 dann in deutscher Übersetzung, begleitet von einer Serie im „Spiegel“). Viel Aufmerksamkeit erfährt auch der Streit zwischen dem evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder und dem katholischen Geschichtswissenschaftler an der Spitze der Kommission für Zeitgeschichte, Konrad Repgen. Diese Debatte zeigte, dass die konfessionellen und politischen Spannungen, die schon den Konkordatsprozess geprägt hatten, auch in den 1970er-Jahren noch keineswegs überwunden waren. Gleichzeitig vermischten sich akademische und mediale Debatten.

Mark Edward Ruff gelingt es trotz des politisch sensiblen Themas seiner Studie, stets den richtigen Ton zu treffen und wissenschaftliche Distanz zu bewahren. Das Buch ist glänzend geschrieben und auch für ein breiteres Publikum sehr gut lesbar. Für Historikerinnen und Historiker besonders beachtlich ist dabei die Tiefe und der Umfang seiner Forschung. Mit Quellen aus über 70 Archiven und Nachlässen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, den USA und auch Kanada bietet Ruff einen Gesamtüberblick zum Thema, der den bisherigen Forschungsstand erheblich erweitert. Hinzu kommen Interviews mit zentralen Akteuren wie dem 2019 verstorbenen Ernst-Wolfgang Böckenförde und dem heute 99-jährigen Guenter Lewy. Ruffs Buch ist dabei neben der klaren Analyse auch voll spannender Anekdoten und interessanter Portraits. Es wird auf lange Sicht einflussreich bleiben.